Die Unterschiede sind riesig – das weiss Jürgen Pannek aus über 28 Jahren Erfahrung. Als Urologe betreut er im Schweizer Paraplegiker-Zentrum (SPZ) Menschen, die durch eine Querschnittlähmung plötzlich in ein neues Leben katapultiert worden sind. Regelmässig kommen Betroffene zu ihm zur Kontrolle, einige der Bekanntschaften bestehen seit vielen Jahren. Und so hat der Fachmann auch beobachtet, dass die Verarbeitung und das Sich-Einlassen auf einen neuen Alltag mit Rollstuhl nicht allen gleich leicht oder schwer fällt.
«Den Querschnittgelähmten eine gute Funktionalität zu ermöglichen ist einfacher als eine gute Lebensqualität», ist der 61-Jährige überzeugt. In der Rehabilitation helfen verschiedene Therapieformen, die motorischen, sensorischen und autonomen Fähigkeiten wieder herzustellen oder zu verbessern. Die Frage der Lebensqualität ist hingegen komplexer und vielschichtiger: «Sie ist von vielen Faktoren abhängig und immer eine Momentaufnahme.»
Jürgen Pannek hat berufsbegleitend den Studiengang «Philosophie und Medizin» an der Universität Luzern besucht. Hier haben Fachpersonen aus dem Gesundheitswesen und Kaderangehörige von Spitälern und medizinischen Institutionen die Möglichkeit, sich auf philosophische Fragen einzulassen und gemeinsam zu diskutieren. «Ich selber wollte eine neue Sichtweise gewinnen auf den Aspekt, was für Auswirkungen unser Tun auf die Betroffenen hat.»
Es braucht eine gute Balance
Philosophische Fragen hat sich Jürgen Pannek schon immer gestellt, diese aber nie vertieft analysiert. In seiner Masterarbeit befasste er sich jetzt intensiv mit dem Glücklichsein und dem Hadern. Dabei nahm er eine weit verbreitete Hypothese unter die Lupe: Die Lebensqualität von Menschen mit einer körperlichen Beeinträchtigung ist schlechter als jene von Menschen ohne körperliche Beeinträchtigung.
Die Antwort ist… Jein. Egal ob Fussgängerin oder Rollstuhlfahrer, gewisse Ereignisse sorgen temporär für Hochs und Tiefs: «Ein Lottogewinn oder eine Scheidung verändern die Lebensqualität akut, aber nicht chronisch – die beiden Extremsituationen nähern sich hinsichtlich ihrer Auswirkung auf die Lebensqualität mit der Zeit wieder an.»
Empirische Studien zeigen jedoch auch, dass die Lebensqualität von Menschen mit einer Querschnittlähmung höher ist, als die Gesellschaft intuitiv meint. Aber sie ist signifikant unter derjenigen von Menschen ohne Beeinträchtigung. «Eine gute Balance zwischen Körper, Verstand und Gemüt spielt eine wesentliche Rolle, wie Betroffene ihre Situation einschätzen», erklärt Jürgen Pannek.
Sehr fragil ist die Situation unmittelbar nach dem Unfall oder der Verletzung. Menschen, die sich frisch eine Querschnittlähmung zugezogen haben, können kaum über sich und ihre Situation urteilen. Sie befinden sich in einer existenziellen Lebenskrise, «sind oft am Boden zerstört und sehen keine oder kaum Perspektiven», so der Fachmann. Diese Menschen brauchen viel Zeit, bis sie mit ihrer neuen Situation umgehen und wieder einen Sinn im Leben erkennen können.
«Ich als Arzt habe im Studium gelernt, Leben zu retten», fügt Jürgen Pannek weiter aus. Doch was heisst das? Einfach die Vitalfunktionen erhalten oder Lebensqualität zurückgeben?
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