Was ist der Erwerbsschaden?

Ist ein Dritter verantwortlich für meinen Unfall? Das Haftpflichtrecht klärt diese Frage und regelt mitunter den Schadenersatz. Der Erwerbsschaden kann dabei eine wichtige Rolle einnehmen.

Frau Muster fährt mit dem Auto zur Arbeit. Dabei wird sie von einem anderen Autofahrer, welcher ihren Rechtsvortritt missachtet, in einen schweren Autounfall verwickelt. Frau Muster erleidet eine Querschnittlähmung. Durch diese unfallbedingte Körperverletzung kann Frau Muster ihr Leben und ihren Beruf im Detailhandel nicht wie gewohnt weiterführen. 

Über das Haftpflichtrecht kann Frau Muster den Schaden auf die Motorfahrzeugversicherung der vortrittsmissachtenden Person abwälzen, um zumindest finanziell ihre bisherige Lebensweise fortsetzen zu können. 

 

Der Personenschaden im Allgemeinen
Die Körperverletzung an sich – in unserem Beispiel die Querschnittlähmung – bedeutet noch keinen Schaden im Rechtssinne. Erst die wirtschaftlichen Nachteile, welche sich durch diese Körperverletzung ergeben, sind als haftpflichtrechtlich relevanten Schaden zu verstehen. Die aus dem Unfallereignis resultierenden wirtschaftlichen Vermögenseinbussen sind somit bei der Bemessung des Schadenersatzes zu berücksichtigen. Dabei nehmen im Allgemeinen neben dem hier interessierenden Erwerbsschaden der Haushaltsschaden, der Pflege-, Betreuungs- und Besuchsschaden sowie verletzungsbedingte (Mehr-)Kosten eine wichtige Position ein. Der seelische Schmerz, welcher mit der Körperverletzung verbunden ist, kann im Rahmen der Genugtuung ebenfalls geltend gemacht werden. 

Der Erwerbsschaden im Besonderen
Infolge der erlittenen Körperverletzung kann eine Person womöglich nicht mehr oder nur noch in eingeschränktem Umfang arbeiten. Der Verdienstausfall infolge von Arbeitsunfähigkeit oder kurz «Erwerbsschaden» steht somit für die Differenz zwischen den noch realisierbaren Einnahmen der geschädigten Person mit Unfall (sog. «Invalideneinkommen») und dem erwarteten Einkommen ohne Unfall (sog. «Valideneinkommen»). Mit anderen Worten wird verglichen, was trotz Unfall noch verdient werden kann und was ohne das schädigende Ereignis verdient worden wäre. 

Die Berechnung des Gesamtschadens und damit auch des Erwerbsschadens kann erst vorgenommen werden, wenn sich der Gesundheitszustand stabilisiert hat und die Sozialversicherungsleistungen (bspw. Renten der Invaliden- und Unfallversicherung) bekannt sind. Denn letztere sind vom einzufordernden Direktschaden in Abzug zu bringen. Aus diesem Grund kann die Schadensberechnung einige Zeit in Anspruch nehmen und verlangt von den Betroffenen viel Geduld. 

Vergangener Erwerbsschaden
Der vergangene Erwerbsschaden betrifft den Schaden vom Zeitpunkt des Unfallereignisses bis zur Schadensberechnung. Bei diesem Blick zurück in die Vergangenheit soll anhand der konkreten Verhältnisse ermittelt werden, wie hoch die Differenz zwischen dem Invaliden- und Valideneinkommen ausfällt. 

Wie erwähnt, müssen für diese Bemessung der Gesundheitszustand der verunfallten Person stabil und die Leistungen der Sozialversicherungen festgesetzt worden sein. Während dieser ab­zuwartenden Dauer sind die in dieser Zeitperiode allenfalls eingetretenen Lohnveränderungen zu berücksichtigen. Beispielsweise müsste einer allfälligen Lohnsteigerung der im Detailhandel tätigen Frau Muster über diese Zeitspanne Rechnung getragen werden. 

Zukünftiger Erwerbsschaden
Bei der Bemessung des zukünftigen Erwerbsschadens interessiert die Frage, wie sich die Einkommenssituation der geschädigten Person in Zukunft entwickelt hätte. Auch hier wird der Fokus erneut auf die Differenz zwischen dem Einkommen gelegt, welches die Geschädigte mit den unfallbedingten Einschränkungen und ohne verdient hätte. Es werden, soweit möglich, konkrete Umstände berücksichtigt und statistische Parameter beigezogen. Als Ausgangsbasis für die Berechnung des Valideneinkommens dient jeweils der aktuelle Lohn. 

Bei Frau Muster dient ihr monatliches Nettoeinkommen als Basis. Ausgehend davon ist ihre Erwerbsbiografie ohne Unfall und die damit zusammenhängende Lohnentwicklung bis zum Erreichen des Pensionierungsalters abzuschätzen. Frau Muster hat die Lehre im Detailhandel abgeschlossen und war während des Unfallszeitpunktes in der Weiterbildung zur Filialleiterin. Gestützt auf diese Umstände ist das Valideneinkommen festzusetzen. Davon abzuziehen ist das Invalideneinkommen, sofern ein solches noch erzielt werden kann. Da Frau Muster verletzungsbedingt nicht mehr arbeiten kann, kann kein Invalideneinkommen abgezogen werden. Bezieht Frau Muster jedoch Rentenleistungen der Sozialversicherungen, sind diese, wie bereits erwähnt, an das Valideneinkommen anzurechnen. Die verbleibende Differenz ist Frau Muster von der Motorfahrzeugversicherung zu ersetzen.

Unsere Unterstützung

Der ganze (Erwerbs-)Schaden und damit auch die hypothetische Erwerbsbiografie muss von der geschädigten Person nachgewiesen und belegt werden. Gerade auch deshalb ist die Geltendmachung von Personenschäden komplex. Das Institut für Rechtsberatung der SPV unterstützt Sie deshalb gerne auch bei haftpflichtrechtlichen Fragestellungen.

(von Sebastian von Graffenried, Paracontact 4/2023)