Kumulation von Hilflosenentschädigungen

Eine Kumulation von Hilflosenentschädigungen verschiedener Sozialversicherer galt bis anhin als ausgeschlossen. Ein kürzlich ergangenes Urteil des Bundesgerichts lässt nun jedoch aufhorchen.

Bisher galt der Grundsatz, dass die versicherte Person entweder eine Hilflosenentschädigung der Invalidenversicherung oder, falls die eingetretene Invalidität auf einen Unfall zurückzuführen war, der Unfallversicherung beziehen konnte. Die neuste bundesgerichtliche Rechtsprechung stellt dies jetzt in Frage (vgl. BGer 8C_741/2023 vom 14. Juni 2024).

Verschaffen wir uns zunächst einen Überblick
Wer wegen einer gesundheitlichen Beeinträchtigung bei den alltäglichen Lebensverrichtungen dauernd auf die Hilfe Dritter oder auf persönliche Überwachung angewiesen ist, hat unter gewissen Bedingungen Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung. Ist die eingetretene Hilflosigkeit auf die Folgen eines Unfalls zurückzuführen und war die versicherte Person zum Zeitpunkt des Unfalls obligatorisch unfallversichert, so erhält sie die Hilflosenentschädigung von der Unfallversicherung. In den anderen Fällen ist allen voran die Invalidenversicherung leistungspflichtig.  

Es werden bei der Unfallversicherung wie auch bei der Invalidenversicherung drei Hilflosigkeitsgrade unterschieden: leicht, mittel und schwer. Die Dritthilfe muss bei allen drei Graden regelmässig (mithin täglich) benötigt werden und erheblich sein.

Die Hilflosigkeit gilt als schwer, wenn eine versicherte Person in allen sechs alltäglichen Lebensverrichtungen auf Dritthilfe angewiesen ist und überdem der dauernden Pflege oder der persönlichen Überwachung bedarf. 

Die Hilflosigkeit gilt als mittelschwer, wenn eine versicherte Person trotz Abgabe von Hilfsmitteln in mindestens vier alltäglichen Lebensverrichtungen auf die Hilfe Dritter angewiesen ist; oder in mindestens zwei alltäglichen Lebensverrichtungen auf Dritthilfe angewiesen ist und überdem einer dauernden persönlichen Überwachung bedarf.

Die Hilflosigkeit gilt als leicht, wenn eine Person trotz Abgabe von Hilfsmitteln in mindestens zwei alltäglichen Lebensverrichtungen auf Dritthilfe angewiesen ist oder einer dauernden persönlichen Überwachung bedarf.

Der Sonderfall: lebenspraktische Begleitung
Im Gegensatz zur Unfallversicherung gilt bei der Invalidenversicherung eine versicherte Person zudem als hilflos, wenn sie zu Hause lebt und wegen der Beeinträchtigung der Gesundheit dauernd auf eine sogenannte lebenspraktische Begleitung angewiesen ist.

Die lebenspraktische Begleitung umfasst weder die (direkte oder indirekte) Dritthilfe bei den alltäglichen Lebensverrichtungen noch die dauernde Pflege oder Überwachung. Vielmehr stellt sie ein zusätzliches und eigenständiges Institut der Hilfe – insbesondere in Form von Anleitung, unterstützenden Gesprächen und Kontrollen – dar.

Ein Bedarf an lebenspraktischer Begleitung ist dann gegeben, wenn eine Person als Folge ihrer gesundheitlichen Beeinträchtigung

  • ohne Begleitung einer Drittperson (z. B. in Form von Hilfe bei der Tagesstrukturierung oder bei der Bewältigung von Alltagssituationen) nicht selbständig wohnen kann; oder
  • für Verrichtungen und Kontakte ausserhalb der Wohnung auf Begleitung einer Drittperson angewiesen ist; oder
  • ohne Unterstützung durch Drittpersonen ernsthaft gefährdet ist, sich dauernd von der Umwelt zu isolieren.

 

Der Bedarf an lebenspraktischer Begleitung muss dabei eine gewisse Intensität aufweisen, damit ein Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung begründet werden kann. Dies ist insbesondere der Fall, wenn die Hilfe von Drittpersonen durchschnittlich während mindestens zwei Stunden pro Woche benötigt wird. 

Sind die Kriterien einer dauernden lebenspraktischen Begleitung erfüllt, erhält eine versicherte Person von der Invalidenversicherung – nicht so von der Unfallversicherung – eine Hilflosenentschädigung leichten Grades, selbst wenn sie in allen alltäglichen Lebensverrichtungen keinen Hilfebedarf aufweist.

Überdem hat eine versicherte Person Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung mittleren Grades von der Invalidenversicherung, wenn sie trotz Abgabe von Hilfsmitteln in mindestens zwei alltäglichen Lebensverrichtungen regelmässig auf Dritthilfe und zudem dauernd auf lebenspraktische Begleitung angewiesen ist. Mit anderen Worten reicht bei der Invalidenversicherung – im Gegensatz zur Unfallversicherung – eine Hilflosigkeit in zwei alltäglichen Lebensverrichtungen bereits aus, um eine Hilflosenentschädigung mittleren Grades zu erhalten, wenn kumulativ ein Bedarf an lebenspraktischer Begleitung hinzutritt.

Die Hilflosenentschädigung der Invaliden­versicherung ist somit weiter gefasst als diejenige der Unfallversicherung.

  • Aufstehen, Absitzen, Abliegen
  • Ankleiden, Auskleiden
  • Essen
  • Körperpflege
  • Verrichten der Notdurft
  • Fortbewegung (in der Wohnung, im Freien), Pflege gesellschaftlicher Kontakte

Die Rechtsprechung des Bundesgerichts
Das Bundesgericht hatte kürzlich den Fall einer 32-jährigen Frau zu beurteilen, welche aufgrund der Folgen eines im Jahre 2011 erlittenen Verkehrsunfalls eine Hilflosenentschädigung schweren Grades der Unfallversicherung bezog. Da die junge Versicherte nebst der Dritthilfe in allen alltäglichen Lebensverrichtungen auch einen Bedarf an lebenspraktischer Begleitung aufwies, beantragte sie bei der Invalidenversicherung zusätzlich eine Hilflosenentschädigung leichten Grades.

Die Invalidenversicherung wies das Gesuch jedoch mit der Begründung ab, dass eine Kumulation von Hilflosenentschädigungen verschiedener Sozialversicherer von vornherein ausgeschlossen sei. Die Invalidenversicherung habe den Bedarf an lebenspraktischer Begleitung daher nicht zusätzlich zu entschädigen. Mit dieser Begründung konnte sich die junge Frau nicht einverstanden erklären, weshalb sie ihren Fall bis vor Bundesgericht weiterzog. 

Das Bundesgericht kam in seinem Urteil vom Juni 2024 zum Schluss, dass zwar die lebenspraktische Begleitung im Rahmen der Hilflosenentschädigung ein zusätzliches und eigenständiges Institut der Hilfe darstelle. Sei eine versicherte Person – wie im vorliegenden Fall – jedoch im schweren Grad hilflos, spreche ihr der zuständige Sozialversicherer so oder anders eine entsprechende Entschädigung im höchstmöglichen Umfang zu. Und zwar unabhängig davon, ob die Person nebstdem auch die Voraussetzungen der lebenspraktischen Begleitung erfüllen würde. 

Der zusätzliche Bedarf an lebenspraktischer Begleitung führe somit auch bei der Invalidenversicherung nicht dazu, dass nebst der Auszahlung einer Hilflosenentschädigung schweren Grades auch noch ein Anspruch auf die Ausrichtung einer Hilflosenentschädigung leichten Grades geltend gemacht werden könne. Nichts anderes habe in der vorliegenden Konstellation im Zusammenspiel mit der Unfallversicherung zu gelten.

Das Bundesgericht sah daher im vorliegenden Fall keinen Raum für die Gewährung einer zusätzlichen leichten Hilflosenentschädigung der Invalidenversicherung, da die Versicherte bereits eine Hilflosenentschädigung schweren Grades der Unfallversicherung und somit ohnehin die höchstmögliche Entschädigung erhielt.

Das Bundesgericht liess jedoch interessanterweise offen, wie es sich beim Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung der Unfallversicherung bei leichter oder mittlerer Hilflosigkeit in Kombination mit einem Bedarf an lebenspraktischer Begleitung verhält. Somit schliesst das Bundesgericht die Kumulation der Hilflosenentschädigung verschiedener Sozialversicherer an sich nicht kategorisch aus. Es bleibt daher abzuwarten, wie das Bundesgericht eine Fallkonstellation mit einer Hilflosenentschädigung mittleren oder leichten Grades der Unfallversicherung und einem Bedarf an lebenspraktischer Begleitung beurteilen wird.

(von Claudia Kobel, Paracontact 4/2024)