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    28.6.2023

    Im AHV- Alter gibt es weniger Leistungen für Hilfsmittel

    Mit einem Postulat wünschte der Neuenburger SP-Nationalrat Baptiste Hurni im März vom Bundesrat einen Bericht, wie die «Ungerechtigkeiten»  zwischen IV- und AHV-Hilfsmittelbezügen zu beseitigen seien. Der Bundesrat unterstützt den Vorstoss. Der Nationalrat hat ihn noch nicht behandelt.

    Behinderte können böse Überraschungen erleben, wenn sie Leistungen nicht mehr von der IV, sondern von der AHV beziehen müssen. © Peter Steiger

    Peter Steiger/7.6.2023  Ab dem Rentenalter ersetzt bei den Hilfsmitteln die knausrige AHV die grosszügige IV.
    Lina Müller (Name geändert) leidet an den Spätfolgen der Kinderlähmung. Die Infektionskrankheit verunsicherte bis in die Sechzigerjahre Eltern und Kinder. Lina erkrankte während einer der letzten Wellen. Wenig später besiegte eine Impfung das Leiden in der westlichen Welt. Nach mehreren Operationen und orthopädischen Korrekturen litt sie während Jahrzehnten kaum unter körperlichen Beschränkungen. Dann zeigte sich, dass sie die Krankheit doch nicht völlig überwunden hatte. Sie wurde schwächer und musste sich beruflich einschränken. 

    Die IV genehmigte eine Teilrente, bewilligte einen Handrollstuhl und ermöglichte, dass die Wohnung barrierenfrei umgebaut wurde. Lina Müllers Schicksal beweist, dass die Schweizer Sozialversicherungen in ihrem Fall bis hierher funktionierten. Doch als Lina das Pensionsalter erreicht, wird sie im Stich gelassen. Der Fall zeigt, dass bei unseren Sozialwerken eine Lücke klafft, in die Behinderte tief und schmerzhaft fallen können.

    Im Alter meist stärker behindert
    Statt einer IV-Rente erhält Lina Müller nun die übliche AHV-Rente. Für die Hilfsmittel muss die AHV zwar die bisherigen Leistungen der IV übernehmen (Besitzstandsgarantie). Doch die Folgen von Behinderungen verschlimmern sich im Alter häufig. Darauf nimmt die AHV keine Rücksicht. So kann es bei Betroffenen zu grossen finanziellen Problemen kommen. So auch bei Lina Müller. 

    Weil der bisherige Handrollstuhl nicht mehr genügt, braucht sie ein viel teureres Modell mit Elektroantrieb. Ausserdem  muss sie ihre Wohnung weiter umbauen und benötigt für ihr Auto eine behindertengerechte Anpassung. Alles zusammen kostet das rund 32´000 Franken. Vor ihrem 64. Geburtstag hätte die IV die Rechnungen bezahlt. Jetzt muss sie alles selbst stemmen. 

    Unser Sozialsystem berücksichtigt nicht, dass im Alter Beeinträchtigungen zunehmen. Und es vernachlässigt jene, die erst im AHV-Alter behindert werden. Ganz schliesst die Altersversicherung die Rentnerinnen und Rentner mit Behinderungen nicht aus. Aber die Leistungen sind viel geringer als jene der IV und reichen bei weitem nicht aus, um die oft hohen Kosten zu decken. Behinderte bekommen kein Geld für einen Wohnungsumbau, einen E-Rolli oder eine Autoanpassung. 

    Überdies öffnet sich ein weiterer Graben. Das Beispiel von Lina Müller zeigt, dass Handycapierte des Mittelstands besonders betroffen sind. Behinderte mit kleinem Budget und Vermögen können im AHV-Alter unter anderem bei der Pro Senectute anklopfen. Lina Müller gehört nicht zu dieser Gruppe. Sie muss den Grossteil ihres Ersparten opfern um weiterhin aktiv am Leben teilzunehmen. Wenn neue teure behindertengerechte Anpassungen nötig werden, droht die Armutsfalle.

    Zuständigkeitslücke
    Francesca Rickli hat 2019 ihre Doktorarbeit an der Universität Zürich diesem Thema gewidmet. Die Ethnologin interviewte und begleitete während 16 Monaten über 30 Seniorinnen und Senioren. Die meisten litten schon vor der Pensionierung unter Mobilitätseinschränkungen. Eine kleinere Gruppe wurde erst im AHV-Alter damit konfrontiert. Ethnologin Rickli bestätigt, dass die damaligen Erkenntnise auch heute noch zutreffen. Sie spricht von einer Zuständigkeitslücke zwischen IV und AHV. Die Betroffenen nützen Spitex, Mobilitätsdienste sowie die verbliebenen Hilfsmittel und seien auf die Unterstützung der Familienangehörigen angewiesen. «Stirbt zum Beispiel der Lebensgefährte, bricht dieses Gefüge auseinander.»  

    Laut Gesetz soll die IV Menschen ins Erwerbsleben integrieren, die AHV jedoch nur noch die Existenz sichern. Diese Unterscheidung ist veraltet. Sie widerspricht den Aufgaben, welche die Seniorinnen und Senioren heute übernehmen. Sie engagieren sich als Freiwillige, sie betreuen Angehörige, sie leisten als Grosseltern Familienarbeit. Indem die AHV den Behinderten dies verunmöglicht, entzieht sie der Allgemeinheit Ressourcen.

    «Katastrophale Situation»
    Annette Paltzer bestätigt die Missstände. Sie ist Präsidentin von Age Plus. Der Verein will die Situation von Behinderten im Alter verbessern. Die Soziologin und Heilpädagogin hat seit ihrer Geburt eine zerebrale Bewegungsstörung. Sie bezeichnet die Situation als «katastrophal»  und macht die Politik dafür verantwortlich. Diese habe das System falsch aufgestellt und erkenne das Problem erst schleppend. Ausserdem erfülle die Schweiz noch zu wenig die Uno-Behindertenrechtskonvention, die sie unterzeichnet hat.

    Immerhin ist das Problem in den letzten Monaten bei der hiesigen Politik ins Blickfeld geraten. Die Nationalrats-Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit reichte im letzten Herbst eine Motion ein. Die Kommission fordert, dass die AHV den Behinderten im Alter eine «smarte Auswahl» von Hilfsmitteln zur Verfügung stellt. Diese soll den Betroffenen ein eigenständiges Leben ermöglichen und den Heimeintritt verzögern. Der Bundesrat lehnt den Vorstoss ab. Seine Begründung: Die Kantone seien zuständig und die AHV könne die grossen Mehrkosten nicht übernehmen. Wann sich der Ständerat mit der Motion befassen wird, ist noch offen.

    Mit einem Postulat wünschte der Neuenburger SP-Nationalrat Baptiste Hurni im März vom Bundesrat einen Bericht, wie die «Ungerechtigkeiten»  zwischen IV- und AHV-Hilfsmittelbezügen zu beseitigen seien. Der Bundesrat unterstützt den Vorstoss. Der Nationalrat hat ihn noch nicht behandelt.

    Es dürfte noch zu viel Zeit verstreichen, bis die Forderungen von Lina Müller und der anderen Betroffenen erfüllt werden.

    Hier geht es zum Bericht «INFOsperber»