Eine letzte Kurve noch, dann ist das Ziel erreicht und der Skitag an diesem 13. Februar 2022 zu Ende. Olivier De Vito kennt die Piste im Gebiet Les Portes du Soleil, ein Anfänger ist er gewiss nicht. Aber dann passiert das Unglück. Nach einem Ausweichmanöver stürzt er mehrere Meter den Hang hinunter, prallt gegen einen Baum und spürt danach weder Beine noch Arme. Nur eines realisiert er rasch: Es ist etwas Gravierendes geschehen.
Ein Rettungshelikopter bringt den Verunfallten nach Lausanne, im Universitätsspital folgt die Operation, bevor Olivier De Vito nach Nottwil verlegt wird. In kleinen Etappen muss er sich als inkompletter Tetraplegiker in der Rehabilitation an viel Neues gewöhnen, zum Beispiel: an den Rollstuhl, der ihn von nun an ständig begleiten und unterstützen wird.
Im Schweizer Paraplegiker-Zentrum macht er dank vieler Therapien Fortschritte, und Mut machen ihm Menschen, deren Namen er nie vergessen wird: Lara Capoferri kümmert sich als Physiotherapeutin intensiv um ihn, Chiara Mele als Ergotherapeutin. Und in dieser Zeit lernt er auch Yann Avanthey kennen, der als Peer bei der SPV arbeitet und vornehmlich für Klientinnen sowie Klienten aus der Westschweiz zuständig ist.
Yann Avanthey stellt Olivier De Vito während seiner Zeit in Nottwil die Organisation SPV vor und listet ihm sämtliche Vorteile auf, die er als Mitglied hat – es sind nicht wenige. Das gibt dem Romand ein gutes Gefühl, ein Gefühl von Sicherheit auch, er spürt: «Während und auch nach der langen Reha wird niemand mit seinem Schicksal alleingelassen, die Patientinnen und Patienten werden sehr gut auf die Rückkehr in den Alltag vorbereitet.»
Als Olivier De Vito das SPZ verlässt, tut er das als Besitzer eines Führerscheins. Während der Rehabilitation erhielt er die Chance, in einem auf seine Bedürfnisse angepassten Auto acht Fahrstunden zu absolvieren. Am Ende absolvierte er in Luzern die praktische Prüfung mit Erfolg.
Er will auch selber Lösungen finden
Wann immer er ein Anliegen hat, weiss er, dass er Yann Avanthey kontaktieren darf oder auch sonst jemanden von der SPV, sei es von der Peer- und Sozialberatung oder von der Rechtsabteilung. Alles in allem, sagt er, habe er Glück im Unglück gehabt, wenn er sehe, wie man sich um ihn kümmere.
Zentral für Frischverletzte ist, natürlich, der Rollstuhl. Olivier De Vito benötigt noch etwas Geduld und gewöhnt sich nach wie vor an den Rollstuhl, der nach dem verhängnisvollen Unfall sein neues Fortbewegungsmittel ist. Inzwischen findet er sich ganz ordentlich damit zurecht. «Wir haben uns kontinuierlich angenähert», sagt er. Nach einer Anfangsphase mit dem elektrischen Rollstuhl stieg er auf einen manuellen um, was ihn dazu zwingt, die Arme einzusetzen und damit etwas für die körperliche Verfassung zu tun. «So verhindere ich, dass ich passiv und bequem werde», sagt Olivier De Vito. Nur für Spaziergänge setzt er gelegentlich auf Unterstützung, spannt den Swiss-Trac vor den Rollstuhl und geniesst es, am Ufer des Genfersees unterwegs zu sein.
So schwierig die Situation für ihn ist: Es sind Qualitäten zum Vorschein gekommen, von denen er gar nicht wusste, dass sie in ihm schlummern. Dank eisernem Willen erzielt er laufend Fortschritte, manchmal zwar nur Fortschrittchen, von denen jedes einzelne ihm aber einen Motivationsschub gibt.
Seine Nächsten sind immer für ihn da
Sich hängen lassen, das kam zudem wegen seines Umfelds nicht infrage. Er fühlt sich verantwortlich gegenüber seinen zwei mittlerweile erwachsenen Kindern, seiner Partnerin, die ihn immer unterstützt hat, den Freunden, die für ihn da sind – seine Fussballkollegen, mit denen er jährlich für ein paar Tage ins Ausland reiste, verbrachten während Oliviers Reha ein Wochenende in Nottwil statt irgendwo in einer europäischen Stadt. Seine Partnerin hilft ihm durch ihre positive Einstellung, trotz der grossen Veränderung für beide nach vorne zu schauen und Pläne für die Zukunft zu schmieden. Und: Er hat seine Mutter Concetta, die mehrmals wöchentlich für ihn kocht und im Haushalt hilft.
Jahrzehntelang war der Sport für Olivier De Vito ein bedeutender Faktor im Alltag, der Fan von Juventus Turin spielte Fussball und fuhr Ski. Dass er das nicht mehr kann, hat ihn zunächst arg frustriert. Aber mittlerweile ist die Verarbeitung weit gediehen. Nur ein kleines Problem hat Olivier De Vito: Er hat zugenommen und möchte das eine oder andere Kilo loswerden. «Die Sache ist, dass meine Mutter einfach so gut kocht. Da kann ich nicht widerstehen», sagt er.
Frischverletzte haben unzählige Herausforderungen zu meistern. Wie finde ich mich sitzend in einer Welt von Fussgängern zurecht? Peerberater sprechen mit den Betroffenen auf Augenhöhe, im wahrsten Sinn des Wortes. Selbstzweifel haben da genauso Platz wie konkrete Tipps
für den Alltag.
(von Peter Birrer, Paracontact 3/2023)