Mireille Schafer stellt sich hinter ihren Partner Pierre-Alain Tercier, der eben das Frühstück zu sich genommen hat, legt ihre Arme über seine Schultern, stützt ihren Kopf auf seinem ab und lächelt. Es ist ein Bild, das irgendwie auch Symbolcharakter hat: Uns bringt nichts und niemand auseinander.
Le Bry heisst die kleine Ortschaft im Kanton Freiburg, hier lebt das Paar in einem beschaulichen Quartier fernab von hektischen Menschenmassen und Verkehrslärm. Aber unbeschwert ist ihr Alltag längst nicht mehr – er ist geprägt von einem ständigen Kampf, auch um die eigene Zukunft.
Als sich die beiden vor zwölf Jahren kennenlernen, sieht ihr Alltag noch ganz anders aus. Beide sind beruflich engagiert, Mireille Schafer als Verkäuferin, Pierre-Alain Tercier als Lagerist. Doch ab 2013 ändert sich das mit einer ernüchternden Diagnose: Bei Pierre-Alain Tercier wird eine degenerative Bandscheibenerkrankung festgestellt. Das Leben wird auf den Kopf gestellt.
«Es ist vorbei»
Zunächst kann er zwar noch mit Mühe gehen, aber nach sechs Jahren kommt er nicht mehr ohne Rollstuhl aus. Sein Zustand verschlechtert sich, 2019 wird der Mann mit einer inkompletten Tetraplegie ein erstes Mal im Schweizer Paraplegiker-Zentrum in Nottwil behandelt. Es folgen weitere Aufenthalte, verbunden mit Ängsten. Pierre-Alain Tercier erinnert sich an einen Moment, in dem er sich überhaupt nicht mehr bewegen konnte und dachte: «Es ist vorbei.»
Aber er rappelt sich auf, und das hat gewiss auch mit Mireille Schafer zu tun, der Frau an seiner Seite, die ihn moralisch aufrichtet und hilft, wo sie nur kann. Sie ist ein eindrückliches Beispiel für die unzähligen pflegenden Angehörigen, die sich liebevoll um ihre Partnerin oder ihren Partner kümmern und dabei nie auf die Uhr schauen.
«Der Mensch Pierre-Alain ist immer noch derselbe», sagt Mireille Schafer. «Als ich vor sieben Jahren mit persönlichen Problemen zu kämpfen hatte, wollte ich nicht sofort eine neue Stelle suchen, sondern mich um Pierre-Alain kümmern.»
Die Liebe gibt ihr Kraft
Support erhält sie von der Spitex – anfänglich auch am Abend. Auf diese Unterstützung verzichtet das Paar jedoch bald. «Er lag oft um 18 Uhr schon im Bett, weil für die Spitex ein späterer Termin nicht möglich war», sagt Mireille Schafer und Pierre-Alain Tercier fügt an: «Wenn Kollegen zu Besuch kamen, war das für mich unangenehm.»
Darum übernimmt Mireille Schafer nun auch Aufgaben, die am Abend und bis zur Nachtruhe anfallen. Tagsüber erledigt sie die Einkäufe, chauffiert ihren Partner zu allen möglichen Terminen, kocht, sorgt sich um den Haushalt. Seine Dankbarkeit ist unüberhörbar: «Sie ersetzt meine Beine und Arme – und oft auch den Kopf. Sie ist schlicht unbezahlbar und für mich das grösste Glück. Wäre Mireille nicht da …» Er bricht ab und fährt fort: «Ich wäre wohl in einem Pflegeheim.»
Angestellt seit Mai 2022
Was wirklich stark belastet, ist die wirtschaftliche Situation. Die beiden fürchten lange um ihre Existenz und wissen nicht, ob der Verkauf ihres Hauses, das ihnen Geborgenheit gibt, einmal unumgänglich werden könnte. Deshalb schränken sie sich ein, wo sie nur können, und drehen jeden Franken zweimal um, bevor sie ihn ausgeben. Mit eiserner Disziplin und grossem Willen kommen die zwei Kämpferherzen über die Runden.
Von grosser Bedeutung ist es, dass Mireille Schafer sich im Mai 2022 anstellen lassen kann und sich dadurch ein regelmässiges Einkommen sichert. Sie ist nun offiziell Mitarbeitende von AsFam – das ist eine von mehreren Organisationen, die pflegende Angehörige unterstützt und ihnen mit Fachwissen zur Seite steht.
Wer sich daheim um eine pflegebedürftige Person kümmert, entlastet das Gesundheitssystem und trägt zu erheblichen Kosteneinsparungen bei. Laut dem Bundesamt für Statistik leisten Angehörige rund 80 Millionen Stunden unbezahlte Arbeit, was einem Wert von 3,7 Milliarden Franken entspricht.
Mireille Schafer füllt nun jeden Abend einen Rapport aus, in dem sie detailliert festhält, welche Pflegeleistungen sie erbracht und wie viel Zeit sie dafür aufgewendet hat. Vertraglich zugesichert ist ihr ein Stundenlohn von 34.30 Franken, was ihr und Pierre-Alain Tercier immerhin etwas finanziellen Spielraum gibt. «Mit dieser Entschädigung kommen wir durch», sagt sie, wirkt zufrieden und fügt an: «Pflegende Angehörige fühlen sich so auch mehr wertgeschätzt. Wir sind sehr dankbar für diese Lösung.»
Die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter der SPV beraten auch Angehörige.
(von Peter Birrer, Paracontact 4/2023)