Manchmal zweifelte sie, manchmal dachte sie: Nein, das wird nichts. Aber jetzt ist alles anders. Dolores Gueissaz führt durch ihr schmuckes Reich, 88 Quadratmeter, dreieinhalb Zimmer, barrierefreies Bad, eine auf sie angepasste Küche. Und da ist auch eine Plattform im Wohnbereich, die sich mit Fernbedienung anheben lässt, damit sie mühelos auf ihren grosszügigen Balkon gelangen kann. «Ich bin so froh, dass es geklappt hat», sagt die 71-Jährige. Ihre Augen werden feucht, in ihrem Gesicht lässt sich ihre Erleichterung ablesen.
Dolores Gueissaz lebt vier Jahrzehnte in Villars-Burquin mit Blick auf den Neuenburgersee. Als ihr Mann 2021 stirbt, beschliesst sie, sich eine Wohnung zu suchen. So sehr sie das rollstuhlgängige Haus liebt, so sehr sie an der beschaulichen Waadtländer Gemeinde hängt: Dort möchte sie nicht alleine bleiben. Im fortgeschrittenen Alter ist es für sie einfacher, in der Stadt zu leben, nur schon wegen der Einkaufsläden oder der medizinischen Versorgung.
Ernüchternde Wohnungssuche
Die Frau, die mit 16 Jahren durch einen Autounfall Paraplegikerin wurde, abonniert Suchabos auf mehreren Immobilienplattformen. In sechs Monaten, denkt sie, habe sie bestimmt eine Lösung. Doch sie irrt sich. «Die Ergebnisse waren ernüchternd», sagt sie, «es gab keine barrierefreien Wohnungen im Angebot.»
Als sie zufällig eine findet, wähnt sie sich dem Ziel nahe. Weil bauliche Massnahmen nötig wären, setzt sie sich mit der Schweizer Paraplegiker-Vereinigung (SPV) in Verbindung. Sie sei sich zwar gewohnt, vieles selbstständig zu erledigen, sagt sie, «ich habe einen sehr starken Willen». Aber jetzt ist sie froh um die Unterstützung der SPV. Judith Nkoumou, bei der Lebensberatung der SPV für die Romandie tätig, stellt die Verbindung zu Dominik Widmer her. Der Architekt ist beim Zentrum für hindernisfreies Bauen angestellt. Nach einer Besichtigung der Wohnung platzt der Traum. Zu hoch wären gemäss Schätzung die Kosten für den Umbau.
Immerhin wissen im Umfeld viele von ihrem Vorhaben und halten die Augen offen. Eine Freundin entdeckt schliesslich auf einem Spaziergang einen Aushang auf einem Grundstück, die Altstadt von Yverdon liegt gleich um die Ecke. Das Gebäude der Kirchgemeinde weicht einem Mehrfamilienhaus mit Mietobjekten, Interessenten können sich telefonisch melden.
Als Tränen des Glücks fliessen
Das tut Dolores Gueissaz. Und bald sitzt sie mit Dominik Widmer beim Architekten, der für den Neubau die Verantwortung trägt. Ihr kommt entgegen, dass sie sich früh genug gemeldet hat. Und dass Dominik Widmer nicht locker lässt. Sie erhält den Zuschlag.
Die Klientin ist aber auch besorgt, weil sie weiss: Die Mehrkosten für die Barrierefreiheit trägt nicht der Bauherr. Sie kann sich die Ausgaben von mehr als 50 000 Franken nicht leisten. An diesem Punkt übernimmt Judith Nkoumou von der Lebensberatung. Sie stellt bei der IV einen Antrag auf Kostenübernahme und bei der Schweizer Paraplegiker-Stiftung auf Vorfinanzierung.
Derweil skizziert Dominik Widmer Pläne des Badezimmers und einer Plattform, die als Zugang zum Balkon dient. Die Küche wird an die Bedürfnisse der Rollstuhlfahrerin angepasst. Die Ablage, der Backofen, die Schränke – alles auf für sie erreichbarer Höhe. Und: Die Eingangstüren zum Haus sowie zur Tiefgarage werden automatisiert.
Aber Dolores Gueissaz fühlt sich wie auf Nadeln. Sie hat noch keinen Bescheid wegen der Finanzierung. Eines Tages meldet sich Dominik Widmer und fragt: «Wollen Sie eine gute Nachricht?» Die Frau ist im Auto unterwegs, als sie hört: «Die Schweizer Paraplegiker-Stiftung übernimmt die Vorfinanzierung.» Dolores Gueissaz fährt zur Seite. Und weint vor Glück. Dem Umzug steht nichts mehr im Weg.
Ende 2023 zieht sie um. Sie packt viele Kisten selber und wird dabei emotional. Sie verstaut viele Erinnerungen, die sie mit ihrem geliebten Mann verbinden. Immerhin findet sie eine ideale Lösung mit dem Haus. Ihr Sohn zieht mit seiner Familie ein, und wenn sie ihn besucht, fühlt sich das immer ein bisschen an, als würde sie heimkehren.
Tipps der Lebensberatung
Oft möchten Betroffene ihre Wohnung nicht aufgeben, sehen sich dazu aber gezwungen. Etwa dann, wenn bauliche Massnahmen zu teuer wären und keinen Sinn machen. «Plötzlich ist alles anders als vorher, und dann muss man auch noch das vertraute Umfeld verlassen. Das ist für diese Menschen ein Schock», sagt Daniela Vozza, Bereichsleiterin Lebensberatung der SPV.
«Grundsätzlich nicht anders als bei Fussgängern», sagt Daniela Vozza, also auf verschiedenen Kanälen wie den gängigen Immobilienportalen oder durch Beziehungen, wobei viele der als rollstuhlgängig ausgeschriebenen Wohnungen noch einer baulichen Anpassung bedürfen. Angela Fallegger, die selber im Rollstuhl sitzt und bei der SPV als Peer angestellt ist, empfiehlt: «Oft lohnt es sich, den Suchradius zu erweitern und sich nicht auf einen bestimmten Ort festzulegen. Und wer nicht selber Auto fährt, sollte darauf achten, wie es um Einkaufsmöglichkeiten in der Nähe und den öffentlichen Verkehr steht.»
Tauchen Probleme auf, hilft die Lebensberatung. Und sie stellt bei einem Umbaubedarf den Kontakt zum Architektenteam her – wie im Fall von Dolores Gueissaz. Gleichzeitig helfen Mitarbeitende der Lebensberatung den Klientinnen und Klienten die Anmeldung an die IV oder den Antrag auf finanzielle Unterstützung bei der Schweizer Paraplegiker-Stiftung einzureichen.
Nur begrenzt. Oft übernimmt die Lebensberatung eine koordinative Rolle und verbindet involvierte Parteien miteinander. «Wünschenswert ist es, dass Betroffene Helfende in ihrem Umfeld finden. In Ausnahmefällen können wir die Stiftung um Unterstützung anfragen», sagt Daniela Vozza. Angela Fallegger rät, strukturiert vorzugehen.
«Was brauche ich als Erstes, wenn ich in der neuen Wohnung bin? Zum Beispiel: Katheter oder das Wichtigste an Kleidern. Darum hilft es, eine detaillierte Liste mit den Inhalten der Umzugskisten zu führen», sagt sie. «Ich würde, falls möglich, in zwei Etappen zügeln. Für private Dinge, auch solche, die zur Intimsphäre gehören, würde ich nahestehende Menschen aufbieten.»
Umziehen ist nicht selten mit Stress verbunden. Das Team der Lebensberatung ist offen für einen Austausch – die Mitarbeitenden können Tipps geben, wie man mit einer neuen Wohnsituation am besten umgeht.